Zella-Mehlis ist reich an Geschichte!

Die Museen der Stadt Zella-Mehlis vereinen mit dem Stadtmuseum in der Beschußanstalt », dem Technikmuseum Gesenkschmiede » und dem Heimatmuseum Benshausen » eine museale Erlebnis- und Bildungswelt in den Bereichen Stadtgeschichte, Kulturgeschichte, Industriegeschichte, Technikgeschichte und Volkskunde.
Erfahren Sie mehr über die Vergangenheit der Stadt, über deren Berühmtheiten, über Erfindungen, sportliche sowie technische Besonderheiten und lernen Sie Zella-Mehlis und Benshausen von einer anderen Seite kennen!
Viele meinen, nachdem sie ein Stadt- oder Heimatmuseum besucht haben, kennen sie alle, weil sie sich oft ähneln ... unsere Museen sind anders!  Kommen Sie uns besuchen und Sie werden überrascht sein, wie ein Museum sein kann, klar gegliedert, informativ, interessant gestaltet ... und Sie werden dann wissen, was die Welt ohne Zella-Mehlis wäre – undenkbar!

Neuigkeiten

Objekt des Monats Juli 2022 – Rockheber

Objekt des Monats - Rockheber

Ein wichtiger Wirtschaftszweig in Zella St. Blasii und Mehlis war die Herstellung verschiedenster Kleineisenwaren. Ein im wahrsten Sinne des Wortes aus der Mode gekommenes kleines Hilfsmittel aus unserer Sammlung des Stadtmuseums stellen wir Ihnen diesmal als Objekt des Monats vor. Es handelt sich um einen sogenannten Rockheber auch Rockraffer, Rockhalter, Saumheber oder Saumraffer. Im Inventar wird er unter der Nummer 4488 geführt und als „federbelastete Zange zum Anheben der Röcke z. B. beim Tanzen oder Treppensteigen“ beschrieben.

Nur dieser eine Rockheber befindet sich aus dem Bestand des ehemaligen Heimatmuseums heute im Stadtmuseum. Leider lässt sich deshalb auch nicht mehr nachvollziehen, welche modebewusste Dame der Stadt diesen getragen hat. Fehlende Marken, Gravuren und Stempel machen eine Zuschreibung an einen bestimmten hiesigen Hersteller unmöglich.

Wie auf der Zeichnung im The Englishwoman’s Domestic Magazine von 1870 gut nachzuvollziehen, wurde der Rockheber am Saum des Rocks festgeklemmt und mit einer Kette, Band oder Kordel am Gürtel, bzw. an der Chatelaine befestigt. (Abb. 2) Der Rocksaum konnte so gehoben und arretiert werden, die Hände blieben frei.

Domestic Magazine
Ein Rockheber im The Englishwoman’s Domestic Magazine, 1870.

Besonders im viktorianischen England um 1860 bis 1880 war dieses Accessoire als „skirt lifter“, „hem-holder“ oder französisch „Porte-jupe“ äußerst populär. Im Victoria and Albert Museum London hat sich neben einem Rockhalter von 1880 bis 1899 auch die Gebrauchsanweisung mit Zeichnung erhalten.

Gebrauchsanleitung
Gebrauchsanleitung des „Skirt lifters“ in freier Nachbildung.

Auf Deutsch lautet der Text:

„Die Neue Königliche Kleideröse

Ein praktisches und griffbereites Mittel, um das Kleid anzuheben, es vermeidet die Unannehmlichkeiten, die entstehen, wenn Röcke mit der Hand gehalten werden. Am bequemsten beim Tragen von Wander- oder Ballkleidern.

ANLEITUNG

Um den Halter am Kleid zu befestigen, heben Sie die dekorativen Scharnierabdeckungen an und drücken auf die beiden Seitenarme, wenn sich die Clips durch Federdruck öffnen und schließen, wird das Kleid festgeklemmt.“

Dazu ist eine Skizze mit eingeklemmten Falten des Rockes dargestellt.

Während das Zella-Mehliser Exemplar eher schlicht gehalten ist, finden sich bei der Bildersuche im Internet durchaus reich verzierte Exemplare mit Darstellungen von diversen Tieren wie Schmetterlingen, Muscheln, Schlangen oder Pflanzen und ornamentalen Motiven. Allen Exemplaren gleich ist die Materialität. Günstigere Modelle waren sicher aus Eisen oder Messing gefertigt, edlere Stücke aus Silber, manche sogar aus Gold gearbeitet. Es gab verschiedene Konstruktionsweisen und Schließmechanismen. Die Metallklammer des Museums besteht aus Eisen und Messing und misst 9,5 × 5,5 cm. Ein Federmechanismus presst die unteren Messingscheiben (Ø ca. 1,5 cm), zwischen die der Kleider- oder Rocksaum schonend eingeklemmt wird, zusammen. Bei seitlichem Druck auf die oberen kugelförmigen Gelenke öffnet sich die Klammer und gibt den Stoff frei. Beim Loslassen schnappt er wieder zu. (Abb. 4)

Mit einer Öse konnte der Rockraffer an einem Band, einer Schnur oder einer Kette befestigt werden. Im oberen Teil sind Metallzacken als kleine Zierelemente angedeutet. In vielen Fällen waren die „Teller“ zum Halten des Stoffes zusätzlich mit Filz, Gummi oder Kork gepolstert, um zarte Gewebe beim Einklemmen nicht zu beschädigen.

Der Zweck des Rockhalters lässt sich der englischen Gebrauchsanweisung schon teilweise entnehmen. Beim Wandern, Tanzen, Einsteigen in eine Kutsche, Reiten, Treppensteigen oder Sport, besonders jedoch als Schutz vor Schmutz, liegt das Raffen des bodenlangen Rockes nahe. Wer dann noch beide Hände frei haben möchte, ist mit einem Hilfsmittel gut beraten.

Aber auch modische Aspekte mögen bei der Nutzung des Rockhebers eine Rolle gespielt haben. Patentschriften legen die erste Herstellung um die Mitte des 19. Jahrhunderts nahe. Zu dieser Zeit wurden unter Kleidern Krinolinen getragen, höchst unpraktische Kleidungsstücke. In den folgenden Jahrzehnten wandelte sich die Silhouette von weit zu schmal, am Hintern aufgetürmt und wieder legerer. Nichts änderte sich jedoch an der Länge der Röcke. Erika Thiel schreibt über die Frauenmode von 1890 bis 1908: „Der Kleiderrock wuchs auch in die Länge und lag sogar vorn schleppend auf dem Boden auf. Auch Tageskleider – sogar Kostüme – wurden so lang, daß sie beim Gehen hochgenommen werden mussten, was in Frankreich mit beiden Händen, in England mit einer Hand üblich war.“ Ein Rockheber scheint unverzichtbar. Wer bei der Mode à la polonaise mitmachen wollte, ließ unter dem eigentlichen Rock die verzierten Unterröcke hervorblitzen. Auch hier könnte ein Rockheber gute Dienste geleistet haben.

Im Zuge der Industrialisierung ab 1850 konnten Metallwaren in großen Mengen und gleicher Form gefertigt werden. Es ist wahrscheinlich, dass Rockheber, besonders die schlichten Modelle wie das Museumsexemplar, gegen Ende des 19. Jahrhunderts in großen Stückzahlen seriell hergestellt wurden. Die Produzenten, auch die unserer Heimatregion, priesen diese Kurz- und Kleineisenwaren in Katalogen an. Neben Rockhebern wurden Hosenklammern, Huthaken, Schuhknöpfer, Uhrenketten oder auch die oben bereits erwähnten Chatelaines, Gürtelhaken mit Ketten und Verschlüssen, um die verschiedenen Ausstattungen einer Dame wie Fächer, Sonnenschirm, Brille, Nähschere zu halten, nebst Zubehör vertrieben. Dass Rockheber um 1900 Massenware waren, zeigt eine Zeitungsanzeige aus der Zeitschrift Volksstimme aus Magdeburg von 1905. Auf Seite 11 werden beim Ausverkauf eines Textil- und Kurzwarenhauses neben Kleidungsstücken, Hosenträgern, Kettengürteln, oder Fächern auch Rockraffer verkauft. Und zwar verschiedene Modelle zu je 15 Pfennig.

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Ausschnitt aus der „Volksstimme“ Magdeburg, Sonntag, den 13. August 1905, S. 1 und S. 11.

Eine wahrscheinliche Verwendung des Rockhebers beleuchtet einen Teilaspekt der Frauenbewegung und Emanzipation um 1900. Frauen auf dem Fahrrad. Mit der Erfindung des Niederrades 1885, der zunehmenden Fertigung in Serie und den damit sinkenden Preisen setzte sich das Fahrrad in der Bevölkerung und auch bei den Frauen vermehrt durch. War es zunächst für Frauen noch unschicklich Rad zu fahren und mehr als die Knöchel zu zeigen, das taten nur Radartistinnen, wandelte sich das Bild um die Jahrhundertwende.

Augustine Ehrhardt
Frau Augustine Ehrhardt in Rock auf dem Rad, Eisenach 1899.

Mutige Frauen trugen Hosenröcke oder Kniebundhosen und verzichteten auf das Tragen eines Korsetts. Frauen, die eher konservativ auf dem Rad unterwegs waren, behielten den langen Rock an, aber rafften ihn, besonders in paarweiser Nutzung mit dem Rockhalter. Die Revolution auch in der Mode ließ sich jedoch trotz Saumheber nicht aufhalten und so haben heute die meisten Frauen die Hosen an.

Nichtsdestotrotz, laut dem Modemagazin InStyle sind weite Röcke – egal ob in Mini-, Midi- oder Maxilänge – ein Must-have im Jahr 2022. Wer hat beim Radfahren im langen Rock nicht das Problem: Wohin mit dem Geraffel? Genau – Raffen! (ms)

Quellen:
Kotzin, Barbara (2015): The art of the skirt lifter – a practial and passionate guide.
Thiel, Erika (1987): Geschichte des Kostüms, Berlin, S. 366.
Wagenknecht, Tilman; Wulff-Wagenknecht, Friederike (1998): Kommt Zeit, kommt Rad …, Hildburghausen.